"Schuld nach Ferdinand von Schirach"

Moritz Bleibtreu: "Schuld"-Gefühle am Abgrund

von Eric Leimann

Moritz Bleibtreu über das, was die Deutschen an Ferdinand von Schirachs Geschichten so fasziniert und welche Faktoren das Aufblühen einer Serienkultur hierzulande nach wie vor verhindern.

Moritz Bleibtreu schätzt die freie demokratische Gesellschaft seiner Heimat Deutschland. Nur im Film darf es keine Demokratie geben, sagt der 46-jährige Schaupielstar. Weil zu viele Leute mitreden, so Bleibtreu, hinkten die Deutschen bei der Produktion hochqualitativer Serien der internationalen Spitze nach wie vor hinterher. Und doch gibt es Sehenswertes. In der ZDF-Produktion "Schuld nach Ferdinand von Schirach", eigentlich mehr Kurzfilmreihe als Serie, spielt Bleibtreu in der am Freitag, 15. September, 21.15 Uhr, beginnenden zweiten Staffel wieder den Anwalt Friedrich Kronberg. Der verbindet vier neue Fälle mit unterschiedlichem Personal zu eindringlichen Geschichten über die schmale Grenze zwischen Recht und Unrecht, zwischen Menschsein und dem Exzess der Gewalt.

prisma: Warum faszinieren Ferdinand von Schirachs Geschichten deutlich mehr als das übliche Krimigedöns im Fernsehen?

Moritz Bleibtreu: Weil sie zur Hälfte etwa aus tatsächlichen Ereignissen und Wendungen bestehen. Je älter ich werde, je mehr Geschichten ich gelesen, mir angehört oder gespielt habe, desto überzeugter bin ich von der Erkenntnis: Das echte Leben schreibt die besten Drehbücher.

prisma: Wobei es Ferdinand von Schirach immer ein bisschen offen hält, welche Details seiner Fälle aus dem Erfahrungsschatz der Juristerei stammen und welche ausgedacht sind.

Bleibtreu: Das finde ich auch nicht schlimm. Jeder gute Autor, und von Schirach ist ein großer Schriftsteller, mischt Wahres mit Fiktion. Gerade in der Mischung liegt die Kunst, finde ich. Vor allem bei den krassen Wendungen, die es in seinen Geschichten immer wieder gibt, nehme ich an, dass wahre Ereignisse zugrundeliegen. Solch absurde Sachen kann man sich nämlich nicht ausdenken.

prisma: Warum?

Bleibtreu: Kann ich nicht sagen. Ist einfach ein Gefühl, das ich meiner Lebenserfahrung entnehme. Gerade Laien denken bei der Filmkunst ja immer, dass die krassen Sachen ausgedacht und die "normaleren" wahr sind. Ich habe ja mit vielen Stoffen zu tun und finde, es ist eher umgekehrt.

prisma: Sind Sie eigentlich neugierig, zu erfahren, was bei "Schuld" wahr und was ausgedacht ist? Als Star der Verfilmungen säßen Sie an der Quelle und könnten den Autor fragen ...

Bleibtreu: Ich erinnere mich an die Episode "Volksfest" aus der letzten Staffel. Da vergewaltigt eine Musikkapelle, neun betrunkene Männer nacheinander, ein 17-jähriges Mädchen, das dort als Bedienung arbeitete. Weil alle schwiegen und die Männer maskiert waren, kam es nicht zur Anklage. Auch, weil ein eventuell Unschuldiger die Sache bei der Polizei meldete und am Ende jeder der Gruppe dieser Unschuldige sein konnte. Bei der Geschichte weiß man, dass sie so passiert ist. Wenn ich mir vorstelle, dass diese Männer nun vorm Fernseher sitzen und mir zuschauen, wie ich das spiele, möchte ich gar nicht wissen, was bei von Schirach oder anderen Autoren ausgedacht und was wahr ist.

prisma: Weil Sie Scham empfinden?

Bleibtreu: Nein, weil ich mich als Geschichtenerzähler schützen möchte. Ich arbeite nicht im Auftrag des Gesetzes oder der Geschichtsbücher, sondern im Auftrag der Fantasie. Ich habe immer wieder mit Drehbüchern zu tun, die auf historischen Ereignisse oder wahren Begebenheiten beruhen. Wenn eine Geschichte derart stark ist, dass sie etwas bei Menschen auslöst, habe ich mein Ziel erreicht. Jeder Zuschauer, der bewegt, verblüfft oder verwirrt ist, ist ein Mensch, der ins Nachdenken kommt. Er bricht dann aus seinen üblichen Denk- und Gefühlsstrukturen aus. Das zu erreichen, ist für mich ein wichtiger Grund, warum Schauspielerei Sinn macht.

prisma: Obwohl jeder Film lediglich 45 Minuten dauert, nimmt er einen gefangen. Wie schafft man das in der kurzen Zeit?

Bleibtreu: Weil der Held keine Entwicklung nimmt. Wenn ich meine Figur des Anwalts betrachte, dann ist er ja eher eine Art Beobachter oder Conférencier. Eine normale Serie würde nun noch erzählen, dass ich ein Alkoholproblem habe, mir einen Hund kaufe oder sonstige langweiligen Dinge. Weil die "Schuld"-Drehbücher auf all das verzichten, gibt es 45 Minuten Zeit für Nebenfiguren, die ja eigentlich die Hauptfiguren sind. Sie sind die Protagonisten dieser unglaublichen Kriminalfälle. Und das Ganze ist natürlich auch mit durch die Bank weg hervorragenden Schauspielern besetzt. In der Episode "Familie" spielen Lars Eidinger, Jürgen Vogel und ich gemeinsam. Die meisten Kinofilme sind weniger prominent besetzt.

prisma: Was im Vergleich zu üblichen Serien fehlt, ist, dass man sich mit keinem der Charaktere identifizieren oder ihm zumindest folgen kann. Warum entwickelt die Serie dennoch diesen erzählerischen Sog?

Bleibtreu: Ich glaube, neben den wahnsinnig starken Geschichten ist es ein starkes Konzept, das die Serie zusammenhält. Die hochwertige Optik, diese besondere Stimmung. Hier muss man Oliver Berben großen Respekt zollen, der das ganze Projekt sehr ambitioniert begleitet. Er hat ein Konzept im Kopf und zieht es durch. In anderen deutschen Serienprojekten wird oft viel zu viel zerredet oder taktiert. Auch, weil wir ein Problem mit Hierarchien haben. Diktatur funktioniert im Film manchmal ganz gut (lacht).

prisma: Fehlt den Deutschen der Mut, eine künstlerische Vision durchzusetzen oder sind es bestimmte Strukturen, die das verhindern?

Bleibtreu: Deutschland ist ein sehr demokratisches Land – und das ist auch gut so. Wir haben, gerade in der kreativen Szene, ein großes Problem mit Leuten, die autoritär auftreten. Das hat mit der deutschen Geschichte, auch jener der Kunst zu tun. Spätestens meine Generation, die von den 68-ern geprägt ist, lernte, jede Form der Autorität zu hinterfragen. Auch die neue Filmszene, die in damals in jener Zeit entstand, ist vom Geist der Demokratie geprägt. Der "Filmverlag der Autoren" zum Beispiel. Im Prinzip wollte man Filme machen, wie im Theater gearbeitet wird. 15 Leute entwickeln ein Stück, jeder soll etwas dazu beitragen. In großen Hollywood-Filmen oder Serien funktioniert das aber nicht. Wenn du ein 250 Millionen-Dollar Projekt und 70 Drehtage hast, können nicht alle mitreden oder mitentscheiden. Das Risiko wäre zu hoch. Man braucht manchmal einen sehr inspirierten Despoten, um Größe herzustellen.

prisma: Viele Köche verderben also immer den Film-Brei?

Bleibtreu: Nicht immer. Es gibt auch Filme, bei denen man sich auf diese theaterhafte Herangehensweise geeinigt hat – und das Ganze funktioniert. Manchmal entsteht durch das freie Zusammenwirken einer Gruppe etwas, das toll ist. Solche Projekte sind jedoch die absolute Ausnahme.

prisma: Man braucht den genialen Einzelnen ...

Bleibtreu: Das und noch eine weitere Sache sind entscheidend: ein starkes Konzept! Wenn es jemanden gibt, der das Konzept und seinen Reiz versteht, jemand, der auch die Power hat, auf die konsequente Durchsetzung des Konzepts zu achten, hat man gute Aussichten, etwas Gutes zu erschaffen. Dann ist noch nicht mal entscheidend, ob ein Konzept originär oder geklaut ist. "Verliebt in Berlin" oder "Stromberg" waren einfach tolle Serien-Konzepte, die in Deutschland durchgezogen wurden. Das eine war von einer brasilianischen Serie geklaut, das andere von "The Office" in England. Dennoch war auch das deutsche Produkt toll. Wie gesagt: Da wurde ein starkes Konzept konsequent durchgezogen und eben nicht zerredet oder hier und da geändert.

prisma: Sie sind ein klarer Gegner von Demokratie im Film ...

Bleibtreu: Manchmal verabredet man, dass alle mitreden und es funktioniert. Ich habe das aber sehr selten erlebt. Grundsätzlich empfinde ich Demokratie im Film tatsächlich als den falschen Ansatz.

prisma: Nun sind die meisten Kurzgeschichten aus Ferdinand von Schirachs "Schuld" verfilmt. Bedeutet das, Ihre Serie ist nach zwei Staffeln zu einem Ende gekommen?

Bleibtreu: Das muss man sehen. Wir arbeiten ja im Auftrag der Fantasie. Man kann sich immer neue Dinge ausdenken. Auch Ferdinand von Schirach kann sich neue Dinge ausdenken. Die Serie wird von vielen Leuten sehr gemocht. Es ist nicht unmöglich, dass es weitergeht. Ich wäre auf jeden Fall bereit, weiterzuspielen.

prisma: Kennen Sie dieses bestimmte "Schuld"-Gefühl? Die Geschichten lassen einen immer mit einem mulmigen Gefühl zurück. Haben Sie das mal für sich analysiert?

Bleibtreu: Ich glaube, das passiert, weil einem jede Geschichte die Abgründe der menschlichen Seele aufzeigt. Man spürt, dass diese Abgründe auch in einem selbst lauern.


Quelle: teleschau – der Mediendienst

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