Uefa Euro 2016 in Frankreich

EM 2016: Alles "Minecraft" oder was?

13.06.2016, 12.18 Uhr
Für das ZDF bei der EM im Einsatz: Oliver Kahn und Oliver Welke.
BILDERGALERIE
Für das ZDF bei der EM im Einsatz: Oliver Kahn und Oliver Welke.  Fotoquelle: ZDF/Svea Pietschmann

Der Fußball in seiner äußersten Verwässerung – auf dem Platz und auf dem Reportersitz.

Von Detlef Hartlap

Nach dem Auftaktspiel und den ersten beiden langen EM-Tagen freue ich mich wie Bolle auf Matches wie Österreich gegen Island und Rumänien gegen Albanien. Die Europameisterschaft in Frankreich wird als große Verwässerung in die Geschichte eingehen. Während für die Olympischen Spiele meist nur noch Sportler mit realistischer Endkampfchance nominiert werden, hält im Fußball das olympische Prinzip vom Dabeisein-ist-alles frischen Einzug.

In Frankreich fällt das Ausscheiden schwer. Da sich aus sechs Gruppen nur mühevoll ein Achtelfinale mit 16 Mannschaften zimmern lässt, dürfen vier Drittplatzierte auch nach den Gruppenspielen noch mittun. Freuen wir uns jetzt schon auf Achtelfinal-Highlights mit der Schweiz, Wales, Ungarn und der Türkei!

Nach dieser Vorrede komme ich zur Sache.

"Minecraft" ist ein Spiel ohne vorgegebenes Ziel. Fußball ist ein Spiel mit klarer Zielausrichtung. Nein, damit ist nicht der immer wieder prickelnd heitere Satz gemeint, wonach "das Runde ins Eckige" müsse, sondern die Fixiertheit von Fußball auf Sieg.

Egal wie verstohlen er zustande kommt, "the winner takes it all", der Sieg allein zählt. Am zweiten Tag der Fußball-EM in Frankreich stibitzte sich die Schweiz einen Sieg (1:0 gegen zehn Albaner), und das Last-Minute-Unentschieden der Russen gegen die Engländer fällt in die gleiche Kategorie. Entscheidend ist eben nicht "auf'm Platz", wie Adi Preißler selig einst formulierte, entscheidend ist, was am Ende auf der Anzeigetafel steht.

So kommt es, dass Teams wie England und Albanien, die sich ansatzweise um Fußball bemühten, am Ende wie geprügelte Hunde vom Platz schlichen.

Bei "Minecraft" wuselt sich der Spieler in unendlicher Selbstvergessenheit durch außerirdisch anmutende Gruftenlandschaften, in die sich freiwillig kein Hamster graben würde. Gewinnt er? Verliert er? Egal. Der Spielverlauf ist das Ziel. Hier muss sich niemand vom Platz schleichen. Und weil bei "Minecraft" zwei oder mehrere Moderatoren den verwinkelten Lauf der Dinge kommentieren, miteinander debattierend, mitfiebernd, oft kichernd, manchmal zotig, aber immer mit dem Herzen beim Spieler draußen an der Konsole, ist "Minecraft" eine spaßige, ja manchmal sogar lustige Angelegenheit.

Die verkörperte Emanzipation im Stadion

Könnte man das doch auch vom Fußball sagen! Béla Réthy vom ZDF kommentierte das Eröffnungsspiel und brachte das Kunststück fertig, zu keiner einzigen Formulierung zu finden, die ein Lächeln auf das Gesicht des zuhörenden Zuschauers hätte zaubern können.

Tags drauf Claudia Neumann, die erste weibliche Fernsehfußballreporterin und somit die verkörperte Emanzipation im Stadion. Ihr Spiel – Wales gegen die Slowakei – bot jede Menge slapstickartiger Szenen, doch offenbar darf beim Fußball genauso wenig gelacht werden wie in der Kirche; eher weniger.

Was hätte Marcel Reif (kommentiert bei der EM für SAT.1) an trockenem Witz produziert, als Jerôme Boateng in einem Rückwärts-Kicksprung mit eingedrehter Schraube auf der deutschen Torlinie die 1:0-Führung gegen die Ukraine verteidigte? Das brachte Boateng Millionen "Bester Nachbar"-Posts in den Internet-Medien ein, aber nicht den kleinsten Ansatz einer sprachlichen Würdigung von ARD-Reporter Gerd Gottlob. Marcel hätte dazu ein paar allerliebste verbale Kapriolen geschlagen, über die man am Tag nach dem Spiel genauso gelacht hätte wie über Flying Jerôme höchstselbst.

Reportage hat mit Sprache zu tun, nicht mit beredter Sprachlosigkeit, wie bei ARD und ZDF. Nicht nur der Fußball erlebt in Frankreich eine nachgerade homöopathische Verwässerung, auch das Reporterwesen plätschert in stiller Ehrfurcht vor dem Geschehen auf dem Rasen dahin, versucht sich hier und da an taktischen Erläuterungen (Coach Cam, du meine Güte!), bemerkt aber die Momente der Wendung, wie sie in einem jeden Spiel vorkommen (Ausnahme Polen gegen Nordirland, ein Regionalligaspiel, bei dem es nur auf ein Tor ging).

Claudia Neumann wurde nicht gewahr, dass Wales schon gegen Ende der ersten Halbzeit die Puste ausging, und die Slowakei das Spiel in aller ihrer eigenen Behäbigkeit zu drehen begann. Dass Wales trotzdem gewann, war einer seltenen Abfolge von verstolperten Bewegungsabläufen zu verdanken.

Wie gesagt, die EM bietet Fußball in äußerster Verdünnung.

Die Herren Fachleute im Studio hinter Béla Réthy, darunter Oliver Kahn, wurden ihrerseits nicht gewahr, dass es keineswegs die mit reichlich Lorbeer bevorschussten französischen Stars Griezmann und Pogba waren, die gegen Rumänien das Spiel bestimmten, sondern von der ersten Minute an der allgegenwärtig emsige Dimitri Payet. Noch in der Pause faselten Kahn und Oliver Welke von Pogba (erschreckend eigensinnig) und Griezmann (kaum vorhanden) als den herausragenden Kräften, die dann prompt beide als erste ausgewechselt wurden. 

Der Fußball verwässert. Auf dem Platz, auf dem Reportersitz, im Studio. Sage jetzt keiner, auf dem Platz sei wichtiger. Bei "Minecraft" zum Beispiel weiß man eigentlich nie, was gerade so schrecklich wichtig sei tief unten in den unwirtlichen Gruben, aber die Reporter (oder Moderatoren) machen auf ihre Art was draus.

Kann "Minecraft" die Rettung des Fußballs werden? Die Frage erübrigt sich (noch), weil kaum jemand bemerkt, wie schlimm sich der Fußball inmitten der medial gepushten Hysterie von sich selbst entfernt. Würde Fußball auf "Minecraft" gespielt, das immerhin steht fest, wären nicht nur Spiele wie Island gegen Österreich ohne Weiteres möglich, sondern sogar Lichtenstein gegen San Marino, bei denen das Resultat wirklich schnurz ist. Und Hooligans, die alles und alle kreuz- und kleinschlagen, auch unschuldige Stadionbesucher, kämen da auch nicht vor.

Es sei denn, man würde sie ins Spiel programmieren.

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